Der faszinierende Pitch-Drop-Versuch: Ein Blick auf die Jahrhunderte alte Experimentation mit dem fließenden Medium

Stellen Sie sich ein Experiment vor, das länger läuft als die meisten Menschen leben. Der Pitch-Drop-Versuch ist genau das – ein faszinierendes wissenschaftliches Unterfangen, das unsere Vorstellung von Zeit und Geduld auf die Probe stellt. Dieses bemerkenswerte Experiment demonstriert, wie eine scheinbar feste Substanz in Wirklichkeit über extrem lange Zeiträume fließt und tropft.

Die Geschichte des längsten Experiments der Welt

Das älteste und berühmteste Pitch-Drop-Experiment wurde 1927 an der University of Queensland in Australien vom Physiker Thomas Parnell ins Leben gerufen. Parnell erhitzte eine Portion Pech – ein schwarzes, teerartiges Material, das bei Raumtemperatur fest und zerbrechlich erscheint – und füllte es in einen verschlossenen Glastrichter. Nach drei Jahren Wartezeit, damit sich das Pech setzen konnte, schnitt er die Spitze des Trichters ab und begann mit der Beobachtung.

Was folgte, war eine Übung in extremer Geduld. Das Pech tropft so langsam, dass seit Beginn des Experiments erst neun Tropfen gefallen sind. Der letzte Tropfen fiel 2014, etwa 13 Jahre nach dem vorherigen. Noch bemerkenswerter ist, dass in den knapp 100 Jahren, die das Experiment nun läuft, niemand jemals tatsächlich einen Tropfen fallen gesehen hat.

Der Aufbau des Pitch-Drop-Experiments an der University of Queensland
Der originale Versuchsaufbau des Pitch-Drop-Experiments an der University of Queensland, der seit 1927 ununterbrochen in Betrieb ist.

Die wissenschaftliche Bedeutung hinter der langsamen Bewegung

Der Pitch-Drop-Versuch ist weit mehr als eine wissenschaftliche Kuriosität. Er veranschaulicht auf eindrucksvolle Weise ein fundamentales physikalisches Konzept: die extreme Viskosität bestimmter Materialien. Pech hat eine geschätzte Viskosität von etwa 230 Milliarden mal höher als Wasser. Zum Vergleich: Honig ist nur etwa 10.000 mal viskoser als Wasser.

Diese extreme Viskosität bedeutet, dass Pech für das menschliche Auge wie ein Feststoff erscheint. Man könnte es mit einem Hammer zerschlagen, aber über sehr lange Zeiträume verhält es sich wie eine extrem zähflüssige Flüssigkeit. Bei Raumtemperatur dauert es etwa 10 Jahre, bis sich ein einzelner Tropfen bildet und fällt.

Faszinierende Fakten zum Pitch-Drop-Experiment

  • Das Experiment an der University of Queensland hält den Guinness-Weltrekord für das am längsten laufende Laborexperiment.
  • Die geschätzte Viskosität von Pech beträgt etwa 230 Milliarden Pascal-Sekunden.
  • Ein ähnliches Experiment an der Trinity College Dublin läuft seit 1944.
  • Die Forscher schätzen, dass das Queensland-Experiment noch für mindestens 100 weitere Jahre laufen könnte.

Die tragische Geschichte der verpassten Tropfen

Die Geschichte des Experiments ist geprägt von knapp verpassten Gelegenheiten. Der langjährige Betreuer des Experiments, John Mainstone, beaufsichtigte das Experiment für 52 Jahre (1961-2013), ohne jemals einen Tropfen fallen zu sehen. Dreimal verpasste er den entscheidenden Moment – einmal während er Tee trank, einmal an einem Wochenende und einmal durch einen Kameraausfall.

Tragischerweise verstarb Mainstone im Jahr 2013, kurz bevor der neunte Tropfen 2014 fiel. Auch dieser Tropfenfall wurde nicht direkt beobachtet, da die Überwachungskamera genau zu diesem Zeitpunkt ausfiel – ein weiteres Kapitel in der Geschichte der knapp verpassten Momente.

„Das Experiment erinnert uns daran, dass unsere menschliche Wahrnehmung von Zeit relativ ist. Was für uns als fest erscheint, kann sich über längere Zeitspannen völlig anders verhalten.“ – Professor Andrew White, aktueller Betreuer des Experiments

Moderne Überwachung und weltweites Interesse

In der heutigen digitalen Ära hat das Experiment eine neue Dimension erhalten. Eine Webcam überträgt das Geschehen live ins Internet, sodass Wissenschaftler und Interessierte weltweit das Experiment in Echtzeit verfolgen können. Tausende Menschen schalten regelmäßig ein, in der Hoffnung, Zeuge eines historischen Moments zu werden – dem Fall eines Pechtropfens.

Die webbasierte Überwachung hat dem fast hundertjährigen Experiment neues Leben eingehaucht und eine globale Gemeinschaft von „Pitch-Drop-Enthusiasten“ geschaffen. Wenn der zehnte Tropfen fällt, werden wahrscheinlich mehr Menschen dieses Ereignis beobachten als je zuvor in der Geschichte des Experiments.

Die Webcam-Überwachung des Pitch-Drop-Experiments
Die moderne Webcam-Überwachung ermöglicht es Menschen weltweit, das Experiment live zu verfolgen.

Die philosophischen Implikationen des Pitch-Drop-Versuchs

Jenseits der Physik lädt das Experiment zu philosophischen Betrachtungen ein. Es verdeutlicht die Relativität unserer Zeitwahrnehmung und die Grenzen menschlicher Erfahrung. Ein einzelnes Menschenleben reicht kaum aus, um die vollständige Entfaltung dieses Experiments zu erleben.

Es wirft Fragen auf über die Natur wissenschaftlicher Beobachtung und Geduld. In einer Ära sofortiger Befriedigung und schneller Ergebnisse steht der Pitch-Drop-Versuch als Mahnmal dafür, dass manche natürliche Prozesse sich nicht beschleunigen lassen und dass wahre wissenschaftliche Erkenntnis manchmal generationenübergreifende Geduld erfordert.

Das Experiment verdeutlicht auch den kumulativen Charakter der Wissenschaft – Wissenschaftler beginnen Arbeiten, wohl wissend, dass sie selbst möglicherweise die Ergebnisse nicht mehr erleben werden. Es ist ein Akt des Vertrauens in zukünftige Generationen von Forschern.

Chronologie der gefallenen Tropfen (Queensland-Experiment)

  • 1938: Erster Tropfen
  • 1947: Zweiter Tropfen
  • 1954: Dritter Tropfen
  • 1962: Vierter Tropfen
  • 1970: Fünfter Tropfen
  • 1979: Sechster Tropfen
  • 1988: Siebter Tropfen
  • 2000: Achter Tropfen
  • 2014: Neunter Tropfen

Das Erbe und die Zukunft des Experiments

Das Pitch-Drop-Experiment hat seinen festen Platz in der wissenschaftlichen Tradition gesichert. Es wurde nicht nur zum Guinness-Weltrekordhalter für das längste kontinuierlich laufende Laborexperiment, sondern hat auch zur Auszeichnung mit dem Ig-Nobelpreis für Physik im Jahr 2005 geführt – einer humorvollen Anerkennung für Forschung, die „zum Lachen, dann zum Denken anregt“.

Während das ursprüngliche Experiment in Queensland weiterläuft, haben andere Institutionen ihre eigenen Versionen gestartet. Das Trinity College Dublin begann 1944 ein ähnliches Experiment, und weitere Versuchsaufbauten finden sich an Universitäten weltweit. Jeder dieser Versuche trägt dazu bei, unser Verständnis von hochviskosen Materialien zu vertiefen und neue Generationen für die Langzeitperspektive in der Wissenschaft zu sensibilisieren.

Die Zukunft des Queensland-Experiments ist gesichert. Mit genügend Pech im Trichter könnte es theoretisch noch über hundert Jahre weiterlaufen. Die aktuelle Generation von Betreuern plant bereits, wie das Experiment für zukünftige Wissenschaftler und interessierte Menschen zugänglich bleibt.

Der Pitch-Drop-Versuch lehrt uns eine wichtige Lektion über wissenschaftliche Neugier und Ausdauer. In einer Welt, die von schnellen Ergebnissen geprägt ist, erinnert er uns daran, dass manche Phänomene nur durch geduldige, generationenübergreifende Beobachtung verstanden werden können. Es ist ein lebendiges Beispiel dafür, dass in der Wissenschaft manchmal der Weg das Ziel ist.

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